Oft stehe ich vor den Bildern in Kirchen und Museen und Galerien. Ich betrachte sie. Lasse meinen Blick über die Oberflächen gleiten. Suche nach Spuren, nach Symmetrien. Nach Blickachsen und Bildgestaltungselementen. Ich versuche die Bilder zu entschlüsseln. Ich versuche die Bilder zu deuten. Ich lese die Informationen, die mir der Galerist oder der Kurator oder der Künstler selbst zur Verfügung stellt. Vielleicht dargereicht als Ausstellungsführer. Oder einfach nur als ein Schild an der Wand neben dem Bild. Ich lese den Text und wende mich sodann wieder dem Bild zu. Manchmal informiere ich mich im Vorfeld. Manchmal will ich gar nichts wissen und setze mich dem Bild unbedarft und unvoreingenommen aus.
Leicht in die Irre zu führen
Die Texte führen leicht in die Irre. Zum einen trachten sie danach, meine Interpretation des ausgestellten Objekts zu leiten bzw. vorzugeben. Ich soll mich so und so fühlen. Das und jenes soll ich denken. Einstellung zu etwas, zielgerichtete geistige Tätigkeit.
Das Bild hängt in der Regel an der Wand. Seit Tillmans darf die Fotografie direkt mit Nägeln an der Wand befestigt werden. Der Rahmen fällt weg. Tillmans vertraut der Rahmung durch die Institution.
Die Institution, Kirche, Museum, Galerie, gibt den Bildern einen Rahmen. Sie bestimmt die Art der Hängung und welches Bild welchen Bilderrahmen verträgt. Sie rahmt meine Erfahrung der Bilder. Sie gibt meiner Erfahrung der Bilder einen Rahmen. Sie prägt meine Erfahrung der Bilder. Pädagogen und Museumsführer erdenken sich für mich Konditionierungsprogramme, damit ich die Fotografie, die Kunst, auf die richtige Art erfahre. In der Galerie führt mich der Galerist. Er spricht auf der Vernissage zu mir und gibt mir seine Möglichkeit des Kunstverstehens mit an die Hand. Nur dort habe ich die Chance, die Ausgestellte Ware zu verstehen.
Verstehen · aufnehmen · begreifen · (mich einer Sache) bewusst werden · erfassen · fassen · klar sehen · (sich mir) erschließen · (etwas) blicken · checken · dahintersteigen · durchblicken · durchschauen · durchsteigen · (bei mir) fällt der Groschen · hinter etwas steigen · kapieren · (bei mir) Klick machen · peilen · raffen · schnallen.
Hinter etwas steigen
In den Institutionen kann ich nicht hinter den Bildgrund steigen. Ich kann nicht hinter das Bild gelangen. Es hängt an der Wand. Ich kann es frontal, oder von der Seite, anschauen. Ich kann es mir einprägen und dann die Augen schließen und es mir vor dem inneren Auge vorstellen.
Die gedankliche, vergeistigte, innere Abbildung (Projektion) der (äußeren) Realität, Wirklichkeit, im inneren (Gedächtnis, Gefühl, Bewusstsein), die real erlebte Projektion der (äußeren) Realität/ Wirklichkeit; Abbild des Bewusstseins · geistiges Abbild realer oder fiktiver Gegenstände · Herausgeben grundlegender Informationen über die eigene Person · das Vorstellen (Bekanntmachen, Darbietung) einer Person · das Vorstellen (Bekanntmachen, Darstellen) eines Gegenstandes · das, was während der Anwesenheit des Publikums im Theater, Kino, Zirkus usw. auf der Bühne, Straße, Leinwand oder in der Manege vor sich geht (oft aus mehreren Darbietungen zusammengesetzt).
Der Ausstellungsraum ist ein sakraler Raum. Dort werden die Reliquien der Kunstschaffenden angemessen aufgebahrt. Der Kunstgänger betritt leise den Ausstellungsraum und findet sich in tiefer Kontemplation vor den Ausstellungstücken wieder. Der Innenraum der Rothko-Kapelle dient nicht nur als Kapelle, sondern auch als Hauptwerk moderner Kunst: An den Wänden hängen vierzehn Gemälde von Mark Rothko in verschiedenen Schwarztönen.
Auf Ruhebänken vor den Objekten kann ich mich niederlassen, meditieren und begreifen.
Etwas oder mich mit dem Verstand erfassen · in sich begreifen: etwas umfassen, beinhalten · durchdacht haben, durchdringen, erfassen, kapieren, nachvollziehen, verstehen · aufweisen, beinhalten, einbegreifen, enthalten, umfassen.
Be-greifen
Auf dem Taschentelefon kann ich die Fotografie be-greifen. Ich kann mit einer Geste ein Bild vergrößern oder verkleinern. Ein Fotobuch kann ich zur Hand nehmen, es drehen und durchblättern (siehe Newsletter 18). Einen Fotoabzug kann ich weiterreichen. Ich kann ihn drehen und wenden. Ich kann ihn an die Wand pinnen oder in der Brieftasche verstauen. Ich kann, wenn ich möchte, mir den Fotoabzug einverleiben. In einer Höhle kann ich die Wandbilder be-greifen. Sie imaginieren die Wirklichkeit.
Teufelsgreifer
1958 veröffentlichte Julio Cortázar die Erzählung “Der Teufelsgreifer”, die Michelangelo Antonioni als Inspiration und Vorlage für seinen Film Blow Up diente.
In dem Film tätigt ein Fotograf Aufnahmen von einem Paar. Später, in seinem Studio, fertigt er Abzüge an. Diese studiert er genau und fertigt Ausschnittvergrößerungen an. Er dringt in das Bild ein und verliert sich in den grobkörnigen Silber-Klümpchen (“Korn”). Heute würde er sich im digitalen Rauschen, den Artefakten, verlieren.
In den Artefakten sieht er die Beine einer liegenden Person. Ein Leichnam. Nur er sieht sie. Er eilt zurück in den Park und findet tatsächlich einen Toten, dort, wo er diesen auf den Abzügen gesehen hat. Als er anderen davon berichten will und erneut in den Park eilt, ist der Tote verschwunden. Zurück bleiben die Ausschnittsvergrößerungen, in dessen Körnigkeit nur er den Toten zu sehen vermag.
Ausstellungsware lässt sich nicht beliebig vergrößern. Sie lässt sich nur kontemplativ erfassen. Sie löst uns von unserer Körperlichkeit. In der Ausstellung bin ich nur Geist. In der Ausstellung bin ich, der Besucher, der Kunstgänger, ein Geist.
Auch Postkarten, Bücher und Fotomagazine kann ich nicht beliebig vergrößern. Sie haben ein definiertes Format. Sie sind haptisch. Sie lassen sich drehen und wenden. Sie lassen sich zerreißen. Sie lassen sich begreifen und erfassen und berühren. Sie berühren mich. Nur das digitale Bild lässt sich vom Betrachtenden fast beliebig vergrößern. Das digitale Medium gibt dem Betrachtenden eine Autonomie, die ihm in den Institutionen nicht gewährt wird.
Die Handlung, die ich mit und an dem begreifbaren Bild vollziehen kann, verbindet mich mit dem Objekt. Ich werde eins. Ich kann nun mit allen Sinnen verstehen.
Deutlich akustisch wahrnehmen · Anwendung einer intellektuellen Fähigkeit: a. den Sinngehalt, die Bedeutung von etwas, die Absicht einer Person verstandesmäßig erfassen b. in bestimmter Weise deutend interpretieren c. eine bestimmte Vorstellung beziehungsweise einen bestimmten Eindruck von mir selbst vermitteln; mich in bestimmter Weise darum bemühen, als jemand Bestimmtes angesehen zu werden d. kaufmannssprachlich: (von Preisen) in bestimmter Weise erkennen lassen beziehungsweise zum Ausdruck bringen wollen · Anwendung einer emotionalen Fähigkeit: a. mich in jemanden einfühlen, in jemandes Situation hineindenken können; diese Fähigkeit jemandem gegenüber zu erkennen geben b. (die Verhaltensweise, Haltung, Reaktion, das Gefühl von jemandes Standpunkt aus gesehen als) natürlich, konsequent, richtig, normal einschätzen, beurteilen, empfinden · ohne Streitigkeiten mit jemandem auskommen, eine gute persönliche Beziehung zu jemandem haben · Befähigung zu Tätigkeiten: a. mir etwas (geistig) zu eigen gemacht haben; die Fähigkeit zur Ausübung von etwas haben, die Begabung für etwas besitzen b. ein besonderes (Fach-, Sach- oder Erfahrungs-)Wissen (von etwas) aufweisen; (mit etwas) vertraut sein, umzugehen wissen; (auf einem bestimmten Gebiet) genau Bescheid wissen (und diesbezüglich urteilsfähig sein) c. zu etwas imstande sein; die Fertigkeiten besitzen, etwas Bestimmtes zu tun d. mich mit etwas auskennen und gut umzugehen wissen.
Im Museum werde ich auf sehen und hören reduziert. Mein Tastsinn wird unterbunden. Im Museum verschränke ich deswegen beim Betrachten der Objekte meine Hände hinterm Rücken. So komme ich nicht in Versuchung die Bilder zu ertasten.
Die Kunstinstitution diszipliniert die Körper. Räume, Sitzmobiliar (wenn vorhanden), Lichtführung, Raumklang (leise!) wirken auf die Körper disziplinierend. Oft werden den Objekten noch Wächter zur Seite gestellt. Manchmal werden auch Seile gespannt, die den Betrachtenden auf Abstand halten sollen.
Im virtuellen Raum ist mein Körper (Avatar) nur noch ein Torso mit Kopf und Armen. Der Unterleib fehlt. Dieser Körper muss nicht mehr diszipliniert werden. Er ist vollends Teil der Maschine.
Wolkentiere
Ich liege im Gras. Es ist Sommer. Golden leuchtet das Getreide auf den Feldern. Gemächlich ziehen Wolken am Himmel entlang. Grillen zirpen. In der Ferne läutet die Turmuhr. Ein Hund bellt. Ein Motorrad produziert eine Fehlzündung. Dann kehrt wieder drückende Stille ein. Der Himmel ist Blau. Die Wolken sind weiß. Die Nachmittagshitze lässt mich dämmrig dem Nichtstun frönen. Geliebtes Nichts-Tun. Auf einem Grashalm herum kauen. Und nichts tun. Den Himmel betrachten und den Wolken zuschauen, wie sie vorbeiziehen. Dann und wann nehmen die Wolken Gestalt an. Mal ein Hase. Mal ein Drache. Denke ich. Denke ich, dass ich sehe. Sehe ich. Nur ich. Ich deute mit meinem Zeigefinger auf die Wolke und erkläre, da, schau doch, die Ohren. Der Mund, der Bürzel. Sieh doch hin.
Mit Hannah sprach ich darüber. Wie es ist, ein Wolkentier zu sehen, und der andere sieht es nicht.
Service
Julio Cortázar, Die geheimen Waffen, Suhrkamp
Julio Cortázar, Bestiarium, Suhrkamp
Arwed Messmer, Tiefenenttrümmerung, Spector Books
Karl Claus Dietel, Die offene Form, Spector Books
Siebo Heinken (Hrsg.), Heldinnen und Helden, Nünnerich-Asmus Verlag
Bleibefreiheit, Eva Redecker, S. Fischer
metalabor neun
Der Zeit
wieder
zur Dauer verhelfen
Praktische Theorie
und
Theoretischer Aktivismus
20.09. - 22.09.2024