Zehn Tage später als letztes Jahr, stellt sich der erste Schnee in Limburg ein. Ich weiss jetzt nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist.
Trotz einer Viruserkrankung, die mich ans Bett fesselte, nahm ich meine Leica Q2 Mono zur Hand, eilte auf die Terrasse und machte den ganzen Tag über Fotografien vom Schneetreiben. Hier und da blitzte ich in die Szenerie und wechselte den Aufnahmestandort minimal.
Mein Tun zielte auf dreierlei ab:
Mir einzureden, ich sei gesund.
Den Frevel zu begehen, ein Billigblitzgerät mit einer teuren Leica zu nutzen.
Ein induziertes Bild zu produzieren.
Nach jeder Fotoserie begab ich mich zurück in mein Bett und las weiter in Jenny Odells Buch “Nichts tun”. Dort las ich im Kapitel 4, “Übungen in Aufmerksamkeit”, ihre Ausführungen zu Hockney und war begeistert.
Fotografie ist in Ordnung, wenn es dir nichts ausmacht, die Welt aus der Perspektive eines gelähmten Zyklopen zu betrachten – für den Bruchteil einer Sekunde», sagte er. «Aber das ist nicht dasselbe, wie wenn man in der Welt lebt oder die Erfahrung, in der Welt zu leben, weitergibt. (Jenny Odell, Nichts tun)
Hockneys streben nach dem lebendigen Eindruck gipfelt in dem epochalen Werk Pearblossom Highway. Ein Werk, dass mich vor sehr vielen Jahren zu der Arbeit “Hyperrealistische Komposition”, welches ich mit meinen guten Freunden Bernhard und Marcus über mehrere Tage aufnahm, inspirierte. Einige Tage zuvor hatten wir bei unserem Mentor Klaus Dettke eine Doku über die Entstehung von Pearblossom Highway im Fernsehen in Ausschnitten angeschaut. Da Klaus die Doku aufgenommen hatte, konnten wir die für uns relevanten Stellen der Doku vor- und zurückspulen, immer auf der Suche nach den technischen Tricks, die uns verraten sollten, wie wir selbst so eine Arbeit realisieren könnten.
Am Ende kam etwas ganz anderes heraus, nicht weniger imposant und monumental. Und es wurde mehr als ein halbes Jahr lang in der Kultkneipe "Cafe Klatsch” in Wiesbaden über dem Tresen ausgestellt. Wir waren stolz wie Bolle. Und ein wenig so etwas wie Lokalhelden.
Was uns völlig verborgen blieb, war der tiefere Sinn und die Auseinandersetzung mit der Fotografie, die Hockney zu Pearblossom Highway führte.
Während wir von der optischen Wirkung geflasht waren, entging uns komplett die Beschäftigung mit dem abzubildenden Sujet (bei Pearblossom Highway eine Kreuzung) wie auch der Beziehung zwischen Darstellung und Wahrnehmung. Unsere Hyperrealistische Komposition war lediglich eine Darstellung einer Kreuzung (Loreleyring), die sich aus vielen einzelnen Fotos zusammensetzte. Die Beschäftigung mit dem zyklopischen und starren Blick der Kamera war allenfalls nebensächlich. Uns war entgangen, dass Hockney in seinem Bild den Blick hat schweifen lassen und dass das dazu führte, dass der Betrachtende den Blick schweifen lassen kann. Wir betrachten nicht aus der Entfernung das Bild Pearblossom Highway, sondern wir sind mitten im Bild und betrachten Pearblossom Highway.
Hockney, so Odell, schafft es, durch die Brüche und Unstimmigkeiten der Größenverhältnisse in Pearblossom Highway, jedes Kontinuitätsgefühl oder Punktum zu unterwandern. Weiters schreibt sie, “ohne das vertraute Bezugssystem eines konstanten Fluchtpunktes irrt unser Auge auf dem Bild umher, bleibt an kleinen Details hängen und versucht, alles in Zusammenhang zu bringen.”
Uns war Hockneys “panoramischer Angriff auf die Zentralperspektive der Renaissance” komplett entgangen.
Das Bild als seine eigene Wirklichkeit
Hockneys Fotokopplungen sind, wie chinesische Rollbilder, ihre eigene Wirklichkeit. Und auch Limburg Diaries ist seine eigene, wenn auch vermeintlich düstere, Wirklichkeit.
Im metalabor acht (siehe auch Newsletter 19) präsentierte ich der interessierten Öffentlichkeit mein neues Buch Limburg Diaries. Marcus Bohl kritisierte das Buch als “düster” und “ungewohnt”. Damit traf er bei mir einen Nerv. Düster, soso.
Die Buchhandlung Schäfer hat derweil einige Exemplare bestellt und in den Verkaufsräumen prominent platziert. Doch oh weh, düster. Ich sehe meine eigenen Bücher und denke düster, düster. Was für ein düsterer Bücherstapel.
Im Grunde hat Marcus recht. In Limburg Diaries zeichne ich ein düsteres, schmutziges Bild einer Stadt, die ich lediglich als Beute betrachte.
Dérive und die Dauer der Zeit
Mein Fotoprojekt ist die Geschichte einer Entdeckung
Einer Eroberung
Einer Vereinnahmung
Zugleich
Einer Distanzierung
Das Dérive lässt keine Dauer zu
Kein Verweilen
Kein Ausharren
Es verneint den Schlaf
Und die Kontemplation
In der Unruhe der Zeit, der Hast und Hetze, die ich mich dem Projekt hingegeben habe, ist Düsternis das Resultat. Zwar habe ich im Sommer den Versuch unternommen, das Tempo zu entschärfen. Gelungen ist es mir nicht wirklich. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich, spätestens seit das Buch erschienen ist, so leer und ausgebrannt fühle. Ich dachte sogar schon daran, die Leica zurückzugeben. Aber der Kredit ist noch nicht abbezahlt.
Ja, Limburg Diaries strahlt eine Düsternis aus. Eine Fremdheit. Ich fremdel mit mir selbst, dem Leben, der Welt. Verloren in Hast und Hetze rase ich durch die Straßen und werfe mich wie meine Kamera in die Welt. Ich fange Bilder ein, die schon lange existent sind. Das alles musste so sein.
Der Wetterbericht sagt Schnee bis Ende der Woche voraus. Die Grippewelle hat noch nicht wirklich angefangen. Hausärzte plädieren für die Wiedereinführung der telefonischen Krankmeldung. Der Bundesregierung fehlt Geld im Haushalt. Die Waffenlieferungen an die Ukraine bleiben bestehen. Die Hamas gibt Geiseln im Gegenzug für Gefangene frei. Die Nazis erstarken.
Wenn man die Welt besser zeigt, dann ist sie schöner, viel schöner. Der Prozess des Betrachtens selbst ist die Schönheit. (David Hockney)
Lob des Schatten
Mit zunehmender Gewöhnung
Weicht die Düsternis den tiefen Schatten
Die die Hoffnung auf jenen Raum nähren
Der die Zeit weitet
Der Distanz
Zwischen Reiz und Reaktion
Bringt
Und die Möglichkeiten bietet
Anders
Zu handeln
Die Düsternis weicht vor den Schatten zurück. Sie ist nicht von Dauer. Der Schatten ist das Saatkorn, die Keimzelle für den dritten Raum, wie Odell ihn nennt, den Raum zwischen den Momenten. Im Schatten, da lass uns rasten. Wie gern versteckte ich mich als Kind im Schatten, harrte der Dinge, als stiller Beobachter.
Der Schatten ist von Dauer. Er kühlt. Er beruhigt. Und er faltet sich auf in unendlichen Nuancen. Bis hin zum hellsten Weiss. Der Schatten birgt Überraschendes. Er ist imstande eine fiebrige Schwingung zu erzeugen, die den Raum zu dehnen vermag.
Das Digitale, insbesondere die digitale Fotografie, ist ein totalitäres Punktmedium, dass keinen Zwischenraum kennt. Das digitale Medium trennt die Botschaft vom Boten und die Nachricht vom Sender, wie Byung-Chul Han schreibt. Die digitale Kommunikation, so Han weiter, ermöglicht die sofortige Affektabfuhr, und das digitale Medium ist in dieser Hinsicht ein Affektmedium.
Der Transfer der digitalen Bilder in das analoge Medium Buch erzeugt die Schatten, die die Düsternis vertreiben. Und es ist ein Hauch, ein μ an Raum gewonnen. In diesem winzigen Raum zwischen Reiz und Reaktion liegt das Universum des noch nicht Getanen, des nicht Gesagten, des nicht Gedachten.
In diesem Raum vermag ich mich dem Ich-Du, wie Buber sagt, zu öffnen. In diesem Raum kann ich die Wirklichkeit sehen und zeigen, was wirklich ist. Im Ich-Du erkenne ich die Irreduzibilität und absolute Ebenbürtigkeit des anderen an.
Die Furcht vor dem Schatten und der Dunkelheit begegnen wir, in dem wir jeden Flecken dieser Erde ausleuchten (wollen). Mit unseren Smartphones und den CCTV-Cams blicken wir in die verborgensten Winkel. Wir zerren das Private in die Öffentlichkeit. Privatheit wird durch den herrschenden ikonisch-pornografischen Zwang abgeschafft. Was wir bekommen ist Düsternis, Finsternis, Dunkelheit.
Der Schatten, wie das Zwielicht, laden uns ein zu verweilen und der Zeit wieder zur Dauer zu verhelfen. Limburg Diaries feiert den Schatten und lädt die Betrachtenden ein, in die Zwischenräume einzutreten.
Service
Jenny Odell, Nichts tun, Büchergilde Gutenberg, 2021
Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, edition suhrkamp, 7. Auflage 2020
Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Matthes & Seitz, 2010
Byung-Chul Han, Duft der Zeit, transcript, 2012
Byung-Chul Han, Im Schwarm, Matthes & Seitz, 2013
Byung-Chul Han, Die Krise der Narration, Matthes & Seitz, 2023
Martin Buber, das dialogische Prinzip, Gütersloher Verlagshaus, 16. Auflage 2021
Gerda Schütte, Fotografie, Kehrer 2017 (Ein von meinem guten Freund Semjon herausgegebener Ausstellungskatalog.)
Atelier Zajfert, Camera Obscura Tübingen, nur noch antiquarisch erhältlich
Lukas Kubina, Tauben auf dem Dach, Sorry Press, 2023
François Cheng, Fülle und Leere, Merve, 2004
Hans-Georg Gadamer, die Aktualität des Schönen, Reclam, 2020
Vorankündigung
Im Winter 2024 erscheint “Wiesbadener Raum – Über die zehntausend Angelegenheiten und die zehntausend Dinge in Raum und Zeit”.
Aus dem Vorwort:
Im Jahr 2019 erschien das Handbuch «Wiesbadener Raum - Testfeld zur Erforschung von Bezugs- und Wertesystemen in der Kunst» als gebundene Ausgabe im Buchhandel. Das Handbuch ist Katalog, Werksverzeichnis, Biografie und Kunstwerk zugleich. Was an dem Geschilderten Tatsache, Fakt, Interpretation, Aneignung oder Fiktion ist, bleibt weitestgehend ungeklärt.
Das bei BoD verlegte Buch «Wiesbadener Raum» geht auf ein Künstlerbuch zurück, welches Sascha Büttner 2000 im Rahmen einer Ausstellung konzipierte und in geringer Auflage produzierte.
Der vorliegende Erweiterungsband «Die zehntausend Angelegenheiten und die zehntausend Dinge in Raum und Zeit» setzt die Arbeit am Werk «Wiesbadener Raum» fort. Büttner treibt das Versteckspiel weiter, inszeniert sich mal als Künstlerfürst, mal als Fotograf, mal als Gammler. Dabei bleibt weiterhin ungeklärt, wer Sascha Büttner ist, war oder sein wird, ebenso, was er tat, schuf oder sein blieb.
Für all diejenigen, die Kunst schaffen, Geschichte erforschen, Kultur gestalten und für all die Leser und Leserinnen da draußen, soll dieser zweite Band, genauso wie der erste, als Inspirationsquelle und vor allem als Schatztruhe für ihr eigenes Schaffen fungieren. Dem Autor und Herausgeber (oder der Autorin und Herausgeberin) wäre es eine wahre Freude, Ideen und Verweise in neuen Werken wiederzufinden und darin verwoben zu sehen.
Wie immer habt ihr die Möglichkeit bei mir ein signiertes und dafür deutlich teureres Exemplar zu erwerben. Macht das, es wertschätzt mein Tun.