Im metalabor acht stellte ich die Tragebeuteltheorie vor. Etwas holprig stammelte ich mich durch meine nicht vorhandenen Notizen und bekam am Ende Lob dafür, dass ich auf geniale Weise mein Buch Deutscher Realismus beworben habe.
Die Struktur der Heldengeschichte
Der Held zieht los, besteht Abenteuer, verwandelt sich, bringt in der Regel jemensch um, oder ein Tier oder verwüstet die Umwelt und kommt frohen Mutes zurück. Die Heldenreise gilt als “Königsdisziplin” des Storytellings und gehört in den Werkzeugkoffer eines jeden Beraters, Coach, Trainers, Philosophen, Wissenschaftler, Soziologen, Geschichtenerzählers.
In der Heldengeschichte, wie im Spektakel, spielt jeder, ob Chef oder Arbeiter, Mann oder Frau, Karrierist oder Rebell, nur seine zugewiesene Rolle. Die Gesellschaft wirkt wie eine seelenlose, perfekt organisierte Maschine, die selbst Opposition nur simuliert, Geschichte und Zeit wirken wie gefroren (Debord).
In Heldengeschichten hat nur der Held platz.
Sie gehört ihm und er stülpt sie über unsere Geschichten.
Abstumpfung und Konsum
Fotografie, Film, Zukunftsroman und Businesskasperle, Beschleunigung und Aufmerksamkeitsökonomie gieren nach Helden, nach Uber-Inszenierung und Steigerungsformen. Der Superlativ ist schon lange nicht mehr ausreichend. Krass wird zu total krass, geil zu megageil.
Einfache Tagesabläufe transformieren zu Heldenreisen. Sie müssen so erlebt werden, sonst hat man nicht gelebt.
In dieser Kakophonie des Heldentums, hat das Stille, das Leise, hat die Dauer keinen Platz.
Disconnect
Wir müssen hier raus! Das ist die Hölle! Wir leben im Zuchthaus!
(Ton Steine Scherben)
Wenn wir das Erzählen (Fotografieren) in der Tradition von Tragetasche/ Mutterleib/ Kiste/Haus/ Medizinbündel verstehen, dann können Konflikt, Wettbewerb, Stress, Ringen etc. als notwendige Elemente eines großen Ganzen betrachtet werden, das sich nicht einfach entweder als Konflikt oder als Harmonie beschreiben lässt, da sein Zweck weder Auflösung noch Stagnation, sondern schlichtweg die Aufrechterhaltung eines Prozesses ist. (Frei nach Ursula K. Le Guin)
Der Held schiebt den Alltag beiseite, negiert den Beutel, stapft voran und behauptet, da, wo er hingeht, ist das Unbekannte. Und keiner merkt, dass das Unbekannte nur dem Held unbekannt ist, nicht jedoch denen, die er heimsucht.
Lassen wir also den Held und die Spektakel-Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf unseren Verstand und unsere Gefühle, für einen Moment am Rande liegen. Beachten wir nicht das Getöse, das Gewumse, die Schreie und die Pfeile, die auf uns einprasseln.
Fotografie als kulturelle Tragetasche
Betrachten wir die Fotografie in erster Linie als eine kulturelle Tragetasche und keine Waffe, kein Herrschaftsinstrument. Dann wird eine erfreuliche Nebenwirkung sein, dass Fotografie auf einmal als ein weit weniger starres, enges Feld erscheint, das nun nicht mehr notwendigerweise prometheisch oder apokalyptisch und viel weniger ein mythologisches als ein realistisches Medium ist. (Frei nach Ursula K. Le Guin)
Richtig verstanden, sind Fotografien wie das Fotografieren, so wie jede ernstzunehmende erzählende Geschichte - ganz gleich, wie seltsam sie auch erscheinen mag -, ein Versuch, das zu beschreiben, was passiert, was Leute tun und fühlen, wie Menschen sich zu allem anderen in diesem riesigen Sack Befindlichen in Beziehung setzen, zu diesem Mutterleib des Universums, zu dieser Gebärmutter der Dinge, die einst kommen, und dieser Grabstätte der Dinge, die einst waren, jener unendlichen Geschichte. Wie jede andere Art erzählender Literatur birgt auch die Fotografie genügend Raum, um selbst rastlose Aufsteiger auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und ihnen ihren Platz im großen Gefüge zuzuweisen. (Frei nach Ursula K. Le Guin)
Deutscher Realismus
Kommen wir nun zu dem, was ich eingangs erwähnte. Kommen wir nun zu dem, was, richtig verstanden, eine ernstzunehmende erzählende Geschichte ist. Kommen wir nun zum Deutscher Realismus.
Prinzipien
Die Wiesbadener Schule, auch bekannt unter Deutscher Realismus, richtet ihr handeln nach Prinzipien aus. Aus den Prinzipien leiten sich Gesetze ab, von denen Urteile.
Das Taiji ist der Ursprung aller Dinge.
Der Uranfang erzeugt die zwei Grundkräfte (Energien).
Die Grundkräfte erzeugen die vier Bilder.
Die vier Bilder erzeugen die acht Zeichen.
Bewegung führt zur Ruhe, Ruhe führt zur Bewegung.
Sei ohne Hast
Sei ohne Gier
Das Handeln nach den Prinzipien versetzt den fotografierenden Menschen in die Lage, das zu beschreiben, zu erzählen, “was Leute tun und fühlen, wie Menschen sich zu allem anderen in diesem riesigen Sack Befindlichen in Beziehung setzen, zu diesem Mutterleib des Universums, zu dieser Gebärmutter der Dinge, die einst kommen, und dieser Grabstätte der Dinge, die einst waren, jener unendlichen Geschichte.”
Diese Art der Fotografie fängt nicht damit an, dass mensch einen Bildgebungsapparat vor sein Auge hält. Sie beginnt viel früher. Sie beginnt mit der (richtigen) Haltung zu sich und der Umwelt und allem unter dem Himmel.
Die Wiesbadener Schule ist keine “Schule des Auges”, sie ist eine Schule der (Selbst)Kultivierung.
Limburg Diaries
Limburg Diaries führt die Betrachtenden auf eine Reise durch den Raum. Inmitten der Stadt schweift der Blick über die doch so alltäglich erscheinenden Dinge und fängt Licht, Form und Zeit ein; spielt mit ihnen; verwandelt die Eindrücke in ein Tagebuch des Erlebten.
Inspiriert von Daido Moriyama und Sergio Larrain, von Viléms Flussers Philosophie der Fotografie und den Theorien der Situationisten, ist Limburg Diaries ein Versuch des bewussten Erforschens und Erlebens des urbanen Raums. Ungewöhnliche Perspektiven, harte Kontraste und gekippte Blickwinkel geben einen neuen Eindruck auf das bereits Sichtbare.
Service
Sascha Büttner, Deutscher Realismus, BoD
Sascha Büttner, Limburg Diaries, BoD
Heldenreise, https://de.wikipedia.org/wiki/Heldenreise
Ursula K. Le Guin, am Anfang war der Beutel, https://lesen.oya-online.de/texte/3450-am-anfang-war-der-beutel.html
Jian Teng, Taijiquan, eine neue Interpretation, https://fis.dshs-koeln.de/de/publications/taijiquan-eine-neue-interpretation
Antoine Bruy, Scrublands
Tauben auf dem Dach, Sorry Press
Jungjin Lee, Echo, Spector Books
provoke 1-3 (Reprint), Café Lehmitz
Stacy Kranitz, as it was give(n) to me, Twin Palms Publishers
Vormerken
Fotostreifzug 4 (ehemals “Photowalk”): 26.11.2023, Thema “Die Prinzipien der Wiesbadener Schule”, https://saschabuettner.com/event/fotostreifzug-4-2023/