Den Bogen Spannen
Im letzten Newsletter habe ich mich mit Vilém Flusser auseinandergesetzt. In der Folge war jetzt Stephen Shore dran.
Durch ihn (bzw. seinem Bot auf Instagram) kam ich auf die Idee, den Phrasendrescher OpenAI (bzw. sein Pendant DALL.E) mit dem Befehl “Photograph like Sascha Büttner” zu füttern.
Nach diesen Spielereien nahm ich Stephens Buch Das Wesen der Fotografie zur Hand und verstand zwei wesentliche Aspekte:
Ich muss meine Bilder ausdrucken lassen.
Das Wesentliche kommt zum Schluss.
Bewegung, dérive!
Die Essenz des Begreifens besteht darin, dass ich die Fotografie in die Hand nehmen kann, dass ich sie drehen und wenden kann, dass ich die Augen über die Fotografie wandern lassen kann, dass ich die Fotografie mal nah, mal fern halten kann. Oder, wie im Museum, ich mich zur Fotografie hinbewegen kann, sie von der Seite anschauen kann, im Vorbeigehen ein Blick auf sie werfe oder mich in kontemplativer Ruhe davor setzen kann.
Erst wenn ich meine Fotografien ausdrucken lasse, wird sich das Werk vollenden. Erst dann besteht die Möglichkeit, die Bewegung des Umherschweifens in den Raum, in die Fotografie, in den Körper des Betrachters zu übertragen. Quasi als Übersprungshandlung.
Um Bewegung zu evozieren, gibt es eine Menge Tricks und Kniffe, die Stephen in seinem Buch signifikant zusammenfasst. Ansel Adams, Gottvater des Zonenmesssystems, hat diese Tricks mit Büchern und seinem Zonenmesssystem atemberaubend ergänzt. Ich war, so muss ich an dieser Stelle gestehen, ein Zonenmesssystem-Jünger. Wir haben die 10 Zonen angebetet. Seine Bücher waren meine Bibeln. Ich dachte in X Zonen, ich sah die Welt in X Zonen, ich träumte in X Zonen, ich war X Zonen.
Der Goldene Schnitt
Goldener Schnitt, Bildgründe, Grauwerte, Schärfe und Unschärfe, sind das übliche Handwerkszeug des Fotografen. Mit ihnen und vielen anderen Kniffen gestaltet der Fotograf sein Bild und sucht den Betrachter in das Bild hineinzuziehen oder ihn auszusperren.
Das Wesentliche
Das Wesentliche aber verrät uns Stephen am Ende seines Buches. Ich zitiere:
Wenn ich eine Fotografie mache, speisen meine Wahrnehmungen mein geistiges Modell. Mein Modell stellt sich darauf ein, meinen Wahrnehmungen nachzugeben (was mich dazu führt, meine fotografischen Entscheidungen zu verändern). Diese Modellanpassungen ändern umgekehrt wiederum meine Wahrnehmungen. Und so weiter. Es ist ein dynamischer, selbstmodifizierender Prozess. Ein Ingenieur würde dies eine Rückkopplungsschlaufe nennen.
Es ist eine komplexe, spontane Interaktion aus Beobachtung, Verstehen, Imagination und Absicht.
Der erste Absatz des Zitats folgt meinen Gedankengängen, angeregt durch Flusser. Und vor allem geben sie mir Recht im Friedhofs-Disput, den ich mit Taumelland führen durfte.
Der zweite Absatz des Zitats ist Humbuk, denn weder verstehe ich, wenn ich fotografiere, das evozierte Bild, also die Fotografie, noch kann ich, oder wer anderes, behaupten, die Fotografie sei meiner Absicht entsprungen. Dies würde ja bedeuten, ich wäre mir meines Selbst, meines Unbewussten im Moment des Fotografierens bewusst. Es steht noch immer die Frage im Raum, wer beim Fotografieren fotografiert. Wohlwollender ausgedrückt: Der zweite Absatz nährt den Mythos Fotografie und adelt den Fotografen als einen Alchemisten, auch wenn er heute nur noch Pixel schubst.
2023
Das neue Jahr wird spannend. In drei Monaten wohne ich ein ganzes Jahr in Limburg. Dann sind die Jahreszeiten einmal durchwandert. Dann habe ich die Stadt einmal im Zyklus von Kommen und Gehen erlebt. Dann endlich ist Raum und Zeit für Verfeinerungen. Dann wird es feinstofflich.
Kommende Events
Ab Januar lade ich herzlich zu photophilosophischen Spaziergängen ein. Zum Flanieren durch Limburg. Zum Verweilen oder zum hastigen Passieren städtischer Räume. Die jeweiligen Termine veröffentliche ich im kontinuierlichen Chat auf Substack, auf der Webseite http://diary.saschabuettner.com/events/ und in den nachfolgenden Newslettern.
Service
Stephen Shore, das Wesen der Fotografie, Phaidon, 2015
Ansel Adams, das Positiv, Christian, 1989
Ansel Adams, das Negativ, Christian, 1986
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