Das mit der Fotografie ist so eine Sache. Manche betrachten sie lediglich unter dem Aspekt der Technik. Andere wiederum machen sich Gedanken, welchem Universum die Bilder zuzuordnen sind. Dann wieder gibt es die Theorie, dass die digitale Fotografie (wie alles Digitale) ein Punktmedium ist, dass keinen Zwischenraum kennt (s. Newsletter #20).
Sich in Beziehung setzen
Fotografie fängt mit dem sich in Beziehung setzen an. Wie betrachte ich die Dinge? Stehe ich den Dingen offen gegenüber? Habe ich ein Bild von den Dingen? Möchte ich die Dinge beschreiben, bewerten, klassifizieren?
Oder anders: Sehe ich mein Gegenüber, als ein Etwas, in Zahlen, Messbarkeiten, Quantifizierungen? Beschreibe ich es in seinen endlosen Details? Zerschneide ich es in verdauliche Häppchen? Oder ist alles, was mir entgegentritt, ununterscheidbar eins? Buber nennt dies das Grundwort Ich-Du. Das Grundwort, dass die Welt der Beziehungen stiftet.
Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand. Wer Du spricht, steht in Beziehung.
Der Mensch, so Buber, der Ich-Es sagt, stellt sich vor den Dingen auf, nicht ihnen gegenüber im Strom der Wechselwirkung.
Der Fotografierende sieht die Dinge zumeist ohne Weltgefühl. Das schiebt er dann hinter her, wenn er gefragt wird, warum er dieses oder jenes Bild angefertigt hat. Wie überhaupt zu viele Künstler auf die dumme Frage, warum sie ein Werk vollbracht haben, dumm und stupide antworten, dass sie sich dieses und jenes gedacht haben.
Der Ursprung der Kunst ist, dass dem Menschen Gestalt gegenüber tritt und durch ihn Werk werden will. Die Gestalt, die mir entgegentritt, kann ich nicht erfahren und nicht beschreiben. Nur verwirklichen kann ich sie.
Doch was erfährt man vom Du? Nichts. Man erfährt es nicht. Und was wissen wir vom Du? Alles! Denn man weiss von ihm nichts Einzelnes mehr.
Das Du wird durch suchen nicht gefunden. Gestalt lässt sich nicht finden. Motive schon. Dem Ich-Es zeigen sich Motive. Motive sind ohne Weltbezug. Motive sind Gegenständlichkeiten, die in der Vergangenheit gelebt werden.
Gestalt wird in der Gegenwart gelebt. Nur im Ich-Du, der Aufmerksamkeit, dem Präsent sein, kann es durch mich Werk werden.
Das Du kennt kein Koordinatensystem. Die Digitalkamera schon. Sie ist ein Berechnungsinstrument. Mit der Digitalkamera berechnet der Fotograf das, was der Sucherausschnitt ihm darbietet. Genauer gesagt lässt der Fotografierende den Apparat für sich die Berechnungen durchführen. Der fotografische Akt selbst bringt den Fotografierenden weg von der Welt und weg von dem in Beziehung sein. Auch wenn der Fotografierende den Apparat lediglich in das Getümmel hält und seinen Blick weiter frei schweifen lässt, im Akt des Auslösen der Berechnung ist er nicht in dieser Welt.
Es ist die Haltung des Fotografierenden, ob er mit dem berechneten Bild zufrieden ist. Ob er also einen Knopf gedrückt hat oder diverse Einstellungen vorgenommen hat, und damit den Akt des Fotomachens als abgeschlossen ansieht. Selbst wenn er am Rechner den digitalen Output weiter bearbeitet. Wenn sich die Haltung allein auf den technischen Aspekt, also dem anwenden von Techniken beschränkt oder erschöpft, entsteht kein Werk.
Der solcherart Fotografierende schafft eine geordnete Welt. Jedoch, Weltordung, in Bezug sein, das ist ihm über seine Techniken und der vermeintlichen Beherrschung von Technik, nicht zugänglich.
Ingenieure, Informatiker und engagierte Hobbyfotografen ordnen fortlaufend die Welt (neu). Sie kennen keinen Stillstand. Sie machen keine Pausen. In ihrer Geschäftigkeit verwechseln sie Werk mit Gewerk.
Sie berechnen die Verweildauer, sie verweilen nicht. Sie erzählen keine Geschichten. Sie schaffen Dinge, die sich vor die Welt stellen. Sie liefern Anleitungen und Erklärungen, um mit ihrer Hilfe hinter die Dinge, die sie geschaffen haben, blicken zu können.
Sie fotografieren Hochzeiten, aber sie feiern keine Hoch-Zeit. Sie feiern überhaupt nicht. Feste werden zu Events. Nach dem Foto ist vor dem Foto. Sie erzählen nicht, sie quasseln. Sie produzieren Podcasts. Und Fotostreams.
Alle ihre Handlungen zielen auf Aufmerksamkeit. Sie produzieren sich, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Dabei verlieren sie die Welt und das Ich-Du aus dem Auge und leben ihr Ich-Es. Es wird berechnet, wann was wo und wie aufgenommen und in einem der digitalen Ströme eingespeist wird. Die Berechnungen finden nie ein Ende. Lediglich die Seele droht auszubrennen. Der Verlust seiner selbst.
Wenn ich mich nicht in Beziehung setze, dann produziere ich Bilder für das Universum der technischen Bilder. Ich bleibe in einem Reiz-Reaktionsschema gefangen. Willkommen im Drama Dreieck, im Hamsterrad, im Teufelskreis.
Die Produktionsbedingungen zur Teilnahme am Universum der technischen Bilder sind mit den Jahren allumfassend geworden. Angefangen bei den Apparaten, den Bilderströmen, der heiligen Kuh Instant, dem Ad hoc, dem Sofortbild, hin zu den Verstärkern (Fernsehen und Radio) und den heiligen Hallen (Museen und Ausstellungsräume jeglicher Art). Es ist ein leichtes daran teilzuhaben.
Die Gleichung ist immer dieselbe: Das Gesprochene (oder Gesungene) produziert Text produziert Bild produziert Text und so weiter. Ein ewiger Algorithmus. Der den Fotografierenden einlädt, zu berechnen, zu quantifizieren, sich in Techniken zu übern, Motive zu finden, abzuwägen, zu bewerten. Der Teufelskreis des Ich-Es, des nicht in Beziehung sein.
Obwohl es viele Stimmen und Meinungen gibt, die Techniken anpreisen, um in Beziehung zu treten, halte ich diese für Mumpitz. Achtsamkeit zum Beispiel ist eingebetet in eine tief religiöse, eine buddhistische Lebensführung. Es ist ein umfängliches Konzept, dass Welt erklärt und wie der Mensch in der Welt ist.
Sich wie im Supermarkt zu bedienen und ein Pfund Achtsamkeit (als Retreat) zu kaufen, wird dem Konzept und der darin eingebetteten Technik (Achtsamkeit) nicht gerecht. Achtsamkeit wird zum Alleinstellungsmerkmal und Zeichen einer kapitalistischen Arroganz, die darauf basiert, seinen Reichtum (Ich kann mir ein Retreat leisten) zur Schau zu stellen.
Achtsam fertige ich mit meinem teuren Apparat (Leica, Hasselblad) ein Bild an, das mich zeigt, wie ich achtsam auf Bali meditiere. Influencer sind die Trashies unter den Reichen: Sie nutzen schrottige Instant-Kameras (iPhone etc.), um dasselbe zu zelebrieren: Ihr Ich-Es.
In Beziehung treten fängt mit Aufmerksamkeit an. Nicht damit, Aufmerksamkeit zu erregen, sondern damit, auf etwas aufmerksam zu werden, etwas mit Aufmerksamkeit zu betrachten, wahrzunehmen. Es braucht Dauer und eine kontemplative Haltung, sich aus der Geschwindigkeit der modernen Zeit herauszunehmen und wirklich aufmerksam zu sein.
Dann, wahrscheinlich, würde ich aufstehen, hinaus gehen, in die Stadt. Ich würde durch die Strassen schlendern, am Bahnhof vorbei. Vielleicht würde ich in die Altstadt gehen und mich unterwegs auf einer Bank niederlassen. Ich würde mir meine Umgebung anschauen, die Vögel sehen, die Bäume, Sträucher und vielleicht auch den Müll auf dem Gehsteig. Ich würde mir die Menschen anschauen, die an mir vorbeigehen. Ich würde auf die Geräusche hören, auf das Hupen der Autos und dem Anfahren eines Buses von einer Haltestelle. Ich würde die Tauben gurren hören und die Spatzen tschilpen. Ich würde anfangen, das Gesehene und Gehörte in Muster zu erfassen und vergleichen mit Erfahrungen, die ich früher gemacht habe. Ich würde mich fragen, warum sich die Tauben an jenem Platz wohlfühlen und an einem anderen nicht. Ich würde mich fragen, warum wer zu welcher Uhrzeit seine Zeit auf dem Bahnhofsvorplatz verbringt. Ich würde versuchen, aus meiner Umgebung und aus meinen Beobachtungen schlau zu werden. Ich würde mir einfach Fragen stellen und nicht unbedingt auf Antworten drängen. Die Fragen würden in mir reifen, ich würde sie hin- und her wälzen. Ich würde auf ihnen herum kauen, ihren Duft wahrnehmen. Ich würde den Duft der Stadt wahrnehmen. Und langsam, ganz langsam würde etwas in mir in Bewegung geraten und ich würde spüren, dass etwas, dass sich Gestalt vor mir befindet und ich würde die Kamera anschalten und den Auslöser betätigen und den Werkprozess in Gang setzen. Vielleicht würde ich das digitale Bild sofort auf dem Display betrachten, vielleicht aber auch erst sehr viel später. Ich würde dann irgendwann die Bilder auf meinen Rechner laden und dort betrachten und mich in die Situation, in den Moment des Fotografierens zurückversetzen. Vielleicht würde ich aber das Bild auch so betrachten, als ob es wie von selbst entstanden ist. Ich würde das Bild neu berechnen lassen. dazu würde ich Schieberegler betätigen und die Auswirkungen auf das Bild betrachten. Irgendwann würde ich dann das Bild für gelungen erachten oder auch nicht. Dann würde ich das Bild auf meinem Weblog veröffentlichen oder in einem Newsletter oder auch nicht. Und ich würde immer wieder das Bild, dass ich veröffentlicht habe, betrachten und mich an dem Werk erfreuen. Nur dann, wenn mich das Werk nicht mehr anspricht, würde ich es aus dem Weblog löschen.
Service
Fischli & Weiss, Ordnung und Reinlichkeit, Nieves 2019
Der ewige Brunnen, deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten, C.H.Beck 2023
Jörg Gläscher, zwölf Wellen, Hartmann Books 2023
Sascha Büttner, Versuch über das Private, BoD 2023
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