Alle Kisten sind ausgepackt, das Haus weitestgehend eingerichtet. Auch im Garten kommen wir voran. Da bin ich ganz zufrieden. Neue Routinen und Wege schleifen sich ein (ich pendle wieder öfters nach Frankfurt ins Büro). Und wenn ich mal in Wiesbaden bin, schnappt sich Herr Bohl meine geliebte Q2 Mono und macht sein bestes Bild. Von mir.
Dérive
Seit Jahren übe ich mich in der Kunst des Umherschweifens. Um mich mit neuen Umgebungen vertraut zu machen. Beruflich wie auch privat, wobei das Berufliche immer auch das Private ist. Oder auch nicht. Das wäre Stoff für eine eigene Erkundung.
Im April fand ich einige Male Zeit zum Umherschweifen und habe die zurückgelegten Wege aufgezeichnet und einige Fotografien angefertigt (s.o.). Ich schreibe bewusst angefertigt, um das Handwerkliche zu betonen und das Digitale zu kaschieren. Denn das Digitale bedingt einen Weltverlust. Dazu könnt ihr mehr bei Byung-Chul Han erfahren, in seinem wunderbaren Büchlein Undinge.
Wer möchte, kann mich im Mai und den folgenden Monaten auf meinen Streifzügen durch Limburg begleiten. Kontaktmöglichkeiten s.u.
Aufzeichnungen
Ich liebe seit jeher Karten und die Idee, dass die GPS-Tracks eine eigene Karte darstellen, gefällt mir. Was früher einer Geheimwissenschaft gleich kam, lässt sich heute mit jedem Smartphone mit einer gewissen Leichtigkeit vollziehen: Karte norden, mit Kompass und Karte Ziele anvisieren und drauflos gehen. In der Stadt sind die Möglichkeiten, Wege zu finden und zu gehen begrenzter als im Wald oder Feld. Im Grunde muss man sich für eine der 4 Richtungen entscheiden, dem Straßenverlauf folgen und irgendwann in einer Kneipe einkehren.
Auf der Suche nach einer Software, die es mir ermöglicht, alle aufgezeichneten Wege visuell auf einer Karte und ohne einer Karte abzubilden, stieß ich auf Daniel Belasco Rogers, der schon zu Beginn der 2000er Jahren mittels GPS seine zurückgelegten Wege aufgezeichnet hat und als Kunstgebilde in Ausstellungen präsentierte.
Städte bereisen
Beim Studium meiner eigenen Karten erinnerte ich mich an die Karte, die ich von der Urban Hiking Tour Nummer 5 erstellt hatte (damals nur auf Instagram veröffentlicht und Anfang 2022 dort wieder gelöscht). Die Tour, so fand ich heraus, hat Boris Sievers erarbeitet. In der Zeitschrift ARCH+ veröffentlichte er die Anleitung Wie man Städte bereist. Diese besteht aus 20 Handlungspunkten. Wenn man möchte, kann man die Anleitung in einem MOOC vertiefen.
Punkt 1 der Anleitung (Kaufen Sie topographische Karten Ihrer Stadt im Maßstab 1:25.000) habe ich abgearbeitet (ich nutze OSM-Karten auf meinem iPhone).
Punkt 2 der Anleitung habe ich mir für den Mai vorgenommen: Finden Sie heraus, welche Ortsteile im kollektiven Bewusstsein der Stadt unterrepräsentiert oder nicht vorhanden sind.
Lektion 1 des MOOC:
Die grundlegende Praxis unserer Gemeinschaften von Großstadtwanderern, das, was ihre Originalität und zugleich ihre Übereinstimmung ausmacht, ist der Glaube an die Macht der Wegführung und die besondere Sorgfalt, die wir ihr widmen.
Wie ziehe ich eine Linie? Mit welchen Werkzeugen? Wo soll ich anfangen? Auf einer Karte oder in der Realität? Welche Gefühle soll der Weg vermitteln? Was sind die Prinzipien seiner Komposition?
In dieser Lektion wird die Wegführung als Kunst betrachtet – wahlweise als räumliche Kunst, wie die Architektur oder als zeitbasierte Kunst - wie der Film oder die Musik.
Unbewusste Orte
Angelehnt an Richard Sennets Essay Thomas Struth Stadt könnte man schreiben: LF Diary versammelt Fotografien, die Sascha Büttner in den letzten Monaten von Gebäuden, Straßen und öffentlichen Plätzen in Limburg und Umgebung aufgenommen hat. Im Gegensatz zu Struth, arbeite ich nicht mit einer Großformatkamera, nicht analog und auch entstehen meine Fotografien letztlich nur in Limburg und nicht in den Metropolen dieser Welt. Ergänzt sei noch, dass sich mein fotografischer Ansatz dem deutschen Realismus zuzählt, weniger der Becher Schule bzw. der Düsseldorfer Photoschule.
Doch was stellen unbewusste Orte dar? Geht es hier um die Orte und Räume in der Stadt, die, s. Punkt 2 Anleitung „Wie man Städte bereist“, die im kollektiven Gedächtnis der Stadt unterrepräsentiert oder nicht vorhanden sind? Wie finde ich heraus, was für das Stadtkollektiv, also die Bewohner:innen, nicht vorhanden ist? Und sind diejenigen, die an den Orten, die nicht vorhanden sind, nicht auch Bewohner:innen der Stadt?
Anfängergeist
„Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum erstenmal, ist eine Methode, um an ihnen bisher unbeachtete Aspekte zu entdecken. Es ist eine gewaltige und fruchtbare Methode, aber sie erfordert strenge Disziplin und kann darum leicht mißlingen. Die Disziplin besteht im Grunde in einem Vergessen, einem Ausklammern der Gewöhnung an das gesehene Ding, also aller Erfahrung und Kenntnis von dem Ding. Dies ist schwierig, weil es bekanntlich leichter ist zu lernen, als zu vergessen. Aber selbst wenn diese Methode des absichtlichen Vergessens nicht gelingen sollte, so bringt ihre Anwendung doch Überraschendes zutage, und zwar tut sie das eben dank unserer Unfähigkeit, sie diszipliniert anzuwenden.“ (Klappentext Vilém Flusser, Dinge und Undinge, München, 1993).
Zu guter Letzt
In den Sommermonaten lade ich alle herzlich dazu ein, mit mir Qigong im Park zu üben. Mehr dazu habe ich hier notiert: https://saschabuettner.com/qigong-im-park/
Das Konzept Derivé geht auf die Lettristen und die Situationisten zurück. Auf unzähligen Internetseiten wird das Konzept wiedergegeben. Zugleich finden sich die Original-Dokumente als PDF zum Download (in der originalen Fassung wie auch in deutscher Übersetzung). Ich halte mich an die Texte, die in der Edition Nautilus und in der Edition Tiamat in deutscher Sprache erschienen sind.
Aus dem Derivé hat sich die Psychogeografie und die Spaziergangswissenschaft entwickelt. Über das Gehen gibt es unzählige Abhandlungen. Für mich ist das Umherschweifen nach wie vor eine Technik des eiligen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umgebungen. Was jedoch abwechslungsreiche Umgebungen sein könnten und was unter eiligem Durchgang zu verstehen ist, bleibt offen.
Service
Byung-Chul Han, Undinge, Ullstein, 2021
Colin Ellard, Psychogeografie, btb, 2015
Anneke Lubkowitz, Psychogeografie, Matthes & Seitz, 2020
Guy Debord, Guy Debord präsentiert Potlatch, Ed. Tiamat, 2002
Simon Ford, die situationistische Internationale, Ed. Nautilus, 2007
Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön?, Schmitz, 2006
Wiebke Fangmann, Psychogeographie. Eine Intervention für den Handlungsraum Schule, GRIN, 2014
Vilém Flusser, Dinge und Undinge, Ed. Akzente Hanser, 1993
Thomas Struth, Unbewusste Orte / Unconscious Places, Schirmer/Mosel, 2020
Stefan Gronert, Die Düsseldorfer Photoschule, Schirmer/Mosel, 2017
Sascha Büttner, Deutscher Realismus, BoD, 2021
Daniel Belasco Rogers (https://planbperformance.net/works/lifedrawing/)
Urban Hiking Tour 5 (https://www.regionalpark-rheinmain.de/tour-5-von-wiesbaden-ost-nach-biebrich/)
MOOC https://metropolitantrails.org/de/academy (In 5 Lektionen zu einem Großstadt-Hacker werden)
Urbane Prozesse und die Kunst (https://dlf.uzh.ch/sites/urbanekunst/2018/05/14/oerlikon-eine-psychogeografische-stadterforschung/)
DADAWALK 21 (https://arpmuseum.org/museum/unser-haus/news/dadawalk-21-von-paris-nach-rolandseck.html)
anarchistische geographien (https://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/anarchistische-geographien)
Kontakt: Sascha Büttner, sb@saschabuettner.com