Zaghaft, so scheint es, meldet sich das Frühjahr an. Nach endlosen grauen und kalten Wintertagen, begrüßt mich heute herrlicher Sonnenschein. Erste Gartenarbeit will getan werden.
Die Jahreszeiten, die Tageszeiten, der Rhythmus des Lebens, der in meinen Newsletter immer wieder anklang findet, entspringt einer Vorstellung von den Wandlungen der Jahreszeiten. Dem Winter folgt das Frühjahr, der Sommer, der Herbst und so weiter. Jahrein, jahraus. Die vier Jahreszeiten sind ein Modell, dem wir täglich in den Abendnachrichten begegnen. Wetter.
Immer mehr Kochbücher widmen sich den Jahreszeiten und bieten Rezepte zum Nachkochen an, die mit den saisonal erhältlichen Gemüse-, Getreide- und Obst-Angeboten köstliche Speisen versprechen.
Modelle geben meiner Vorstellung halt. Sie bieten mir Orientierung. Schutz. Routine.
Modelle erklären mir die Welt. Sie erlauben mir, in ihrem Rahmen zu funktionieren.
Im Taijiquan erlerne ich zuerst die äußere Form. Sie ist das Modell, innerhalb dessen ich meinen Körper den Prinzipien des Taijiquan nach modelliere. Ich modelliere meine Bewegungsabläufe und meine Körperhaltung. In meinem Übungsraum habe ich dafür Spiegel angebracht. Das ermöglicht mir den kontrollierenden Blick auf mich selbst. Das Modell entwirft ein Seinsollendes, dem ich zu entsprechen versuche.
Modell und Modellierung ermöglichen keine Meisterschaft
Fotografie ist wie Taijiquan. Einst erlernte ich die Form. Den Umgang mit dem Fotoapparat. Die Ermittlung eines Belichtungswertes. Den Einsatz des geeigneten Objektivs. Das Spiel mit der Tiefenschärfe. Die Wahl des richtigen Films. Den gekonnten Einsatz eines Blitzgeräts. Die Entwicklung des Negativs und das Anfertigen von Abzügen. Ich verinnerlichte das Modell (Grundlagen der Fotografie) und fing an, in dieser Rahmensetzung Fotografien zu modellieren. Ich nahm mir vor, Fotografien anzufertigen, die der Form entsprachen und deswegen augenscheinlich gut zu sein hatten. Meine Mitstreiter in der Gruppe FfK (Fishing for Kompliment) taten das ihrige und wir zusammen das unsrige. Wir waren Meister, postulierten wir. Wir waren eine lustige, lebensfrohe Gemeinschaft in unserer Blase.
Von außen betrachtet waren wir wohl einfach liebenswerte Spinner. Wir waren keine Meister. Aber wir reiften heran. Unsere Fotografien reiften. Unsere Haltung reifte.
Das Seinsollende, das Modell, steht der Reifung diametral entgegen. Meisterschaft ist ein Reifeprozess, der nicht erzwungen werden kann.
Um heranzureifen muss man nichts tun
Täglich laufe ich die Form des Taijiquan Yang-Stils. Die Form, also das Modell, habe ich verinnerlicht. Dank der vielen Wiederholungen. Ich kann die Form, kann ich behaupten. Jetzt kann die Meisterschaft heranreifen. Ich kann sie nicht erzwingen. Eher sollte ich nichts tun. Wuwei, das Prinzip des Nichts-tun. Üben in Vergessenheit. Die Bewegungen fliessen lassen. Aufhören, zu modellieren.
Eine gute Fotografie reift heran. Sie entsteht in dem Moment, in dem ich nichts tue. Fotografieren in Vergessenheit.
Jeff Wall macht solche Fotografien. Drei seiner wichtigsten Arbeiten hat er an Romanen angelehnt. Er nennt sie “Leseunfälle”. “After Invisible Man” ist so ein Leseunfall. Jeff Wall weiss zu modellieren und dem Reifungsprozess den wesentlichen Raum und die nötige Zeit zu geben. Jeff Wall macht, so verstanden, Fotokunst. Er komponiert seine Bilder, heisst es. Ich würde sagen, er modelliert. Eine Komposition ist Bestandteil eines Modells. Zu modellieren heisst, alle Elemente des Modells zu beachten und zueinander zubringen. Bildaufbau, Licht, Gesten, Gründe. Im Rahmen des Modells ein Bild vor Augen haben. Der Zeitraum von “vor Augen haben” bis zur Präsentation ist der Reifungsprozess. Er kann nicht beschleunigt werden. Man macht nicht “reif”. Jeff Wall wird alles getan haben, dass der Reifungsprozess möglich wurde.
Das Leiden anderer
“Der fallende Soldat” ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Robert Capa, das angeblich am Samstag, dem 5. September 1936 aufgenommen wurde. Es soll den Tod eines Soldaten der Republikanischen Iberischen Föderation der Libertären Jugend (FIJL) während der Schlacht von Cerro Muriano im Spanischen Bürgerkrieg zeigen.
Das Foto zeigt das Leiden im spanischen Bürgerkrieg. Es zeigt einen Menschen, der stirbt. Es gibt viele solcher Bilder. Mittlerweile sind alle Medien voll damit. Es ist kaum mehr möglich, dem Leiden anderer nicht zuschauen zu müssen. Solche Fotografie, allen voran die Kriegs- und Katastrophenfotografie, reift nicht heran. Sie ist ein starres Modell, dass sich selbst täglich reproduzieren lässt. Die Reproduktion erfolgt auf zwei Ebenen. Auf der Ebene des Fotografen und auf der Ebene des Betrachters. Das Modell heisst Click-Baiting. Aufmerksamkeitsökonomie. Sachherrschaft. Deren Dogma ist, dass der besitzbare Körper leblos ist. Fotograf und Betrachter sind Komplizen. Das Foto das verbindende Band.
Kriegs- und Katastrophenfotografie eignet sich die Körper an. Die Leidenden und die Leblosen. Und die noch Lebenden werden in das leblose Medium Fotografie transzendiert. Der Betrachter fiebert der Leblosigkeit der lebenden Leidenden entgegen. Werden sie auch sterben? Sind sie schon tot? Haben sie es geschafft, dass rettende Ufer zu erreichen? Kriegs- und Katastrophenfotos von noch nicht Toten bieten den größten Nervenkitzel für den Betrachter.
Der Krieg entwickelt sich. Er kommt nicht plötzlich. Und er kommt auch nicht unerwartet. Der Krieg hat immer soziale, ökonomische und politische Implikationen. Krieg ist gewollt.
Es macht keinen Sinn, mit dem Fotoapparat in den Krieg zu ziehen. Kein Bild eines Leidenden hat jemals einen Krieg beendet oder einen neuen Krieg verhindert.
Bilder vom Krieg verneinen das Leben. Bilder vom Krieg feiern den Tod. Der Krieg formiert das Seinsollende. Und der Fotograf ist ein Element in der Planung des Krieges. Er gehört dazu.
Wu Wei
Uns fällt es in der heutigen Zeit immer schwerer zu warten. Abzuwarten. Auszuharren. Der Dinge harren, die da kommen mögen. Eine gute Fotografie kann nicht komponiert werden. Ein gutes Foto ist modelliert und zugleich gereift. Der Fotograf harrt der Dinge. Er lauscht. Er schnuppert. Er tagträumt. Er tastet. Er schmeckt. Er gammelt und lässt die Zeit verstreichen. Er hat eine Vorstellung von Etwas im Kopf. Von einem Motiv. Er hat eine Idee. Eine Intuition. Und er wartet, voller Geduld, bis sich vor seiner Kamera das ereignet, was er aufnehmen will. Er hat das Gespür dafür. Dazu braucht er nicht kontrollierend durch den Sucher der Kamera starren. Er weiss, wann der Moment gereift ist. Wie der Bauer, der weiss, dass die Zeit zum einholen der Ernte gekommen ist.
Fotografie braucht Zeit. Sehr viel Zeit. Sie beginnt sehr lange vor dem Auslösen des Fotoapparats. Sie beginnt sehr lange vor dem Blick durch den Sucher oder den Blick auf das Display. Manchmal ist alles Warten vergebens. Dann ist die Zeit vertan. Keine Fotografie kommt zustande. Die Dinge, die Wandlungen, die Jahreszeit, nichts war bereit. Nichts hat zum Fotografen gesprochen. Er legt seinen Fotoapparat unverrichteter Dinge zur Seite. Er weiss, dass er die begehrte, die erstrebte Fotografie nicht erzwingen kann. Er befindet sich nicht im Krieg.
Geschichten erzählen vom Alltag
Lasst uns Geschichten erzählen. Vom Leben. Vom gemeinsamen Leben. Vom Alltag.
Service
Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, Fischer, 2005
François Jullien, Vom Sein zum Leben, Matthes & Seitz, 2018
Teju Cole, Black Paper, Claassen, 2021
Ralph Ellison, der unsichtbare Mann, atb, 2020
Eva von Redecker, Revolution für das Leben, Fischer, 2023
Karola Bettina Schneider, Kraftzeiten, at Verlag, 2021
Samuel Beckett, Proust, Bibliothek Suhrkamp, 2023
Jason Gardner, We the Spirits, Gost Books, 2024
Jack Whitefiled, https://www.jackwhitefield.com/publications
Keunyser
Furze
Motor
Fritz B. Simon, Tödliche Konflikte, Carl-Auer Verlag, 2022
Wilhelm Geisbauer, Reteaming und neue Autorität, Carl Auer Verlag, 2023
metalabor neun
Der Zeit
wieder
zur Dauer verhelfen
Praktische Theorie
und
Theoretischer Aktivismus
20.09. bis 22.09.2024