Fotografie des Gegenwärtigen
Im Moment sein. Ganz bei sich sein. Einssein. Nonbinär. Nicht-getrennt-sein. Es gibt so viele wunderschöne Begriffe für das Sein im Moment. Und es gibt den begründeten Verdacht, gar die unverrückbare Erkenntnis, dass wir selten bis gar nicht präsent sind. Der Moment, so ein verzweifelter Ausruf, der kann mich mal.
In Ost wie West wissen wir, dass Gegenwärtigkeit, das Sein im Moment, fast unmöglich ist. Es sei denn, man widmet sein Leben ganz dem Moment. Dazu geben die Buddhisten, die Daoisten, die Zen-Mönche, die Hinduisten und selbst manche Christen und Mystiker und Schamanen hilfreiche Anleitungen. Sei es die Koan-Praxis. Sei es die Meditation. Sei es die dosierte Einnahme von Drogen. Sei es der Zustand der Trance und des Rauschs.
Die Schwierigkeit, im Moment leben zu können, könnte für die Fotografie eine wunderbare Herausforderung sein. Weniger die Fotografie des Gegenwärtigen, wie Holger Kube Ventura in dem gleichnamigen Fotobändchen versucht herbei zu dichten. Fotografie als Versuch, das Gegenwärtige abzubilden, quasi zu repräsentieren, ist ein doppelter Unsinn. Überanspruch und Fehlanspruch.
Lösen wir uns doch von alten Fesseln
Kunst, und insbesondere Fotografie, repräsentiert nicht. Kunst lässt sich zwar sehr gut vor den Karren der Repräsentation spannen. Aber was lässt sich nicht vor diesen Karren spannen?
Fotografie ist ein Handwerk, auch wenn es mittlerweile von den chemischen und optischen Geheimkentnissen losgelöst wurde. Mit Einzug des digitalen in die Fotoapparate, wurde das Fotografieren einfacher und zugänglich für jedermann.
Worin liegt nun das handwerkliche, wenn Fotografien per Knopfdruck erzeugt werden können. Wenn sich der Fotografierende weder über Zeit/Blende/ASA Gedanken machen muss, noch um Schärfe, Vorder-, Mittel- oder Hintergrund?
Das Handwerkliche lag noch nie in der Bedienfertigkeit der technischen und chemischen Prozesse. Zumindest nicht alleinig. Das Handwerkliche liegt in der Bildung (und charakterlichen Reifung) des Fotografen. Der Fotograf mag noch so sehr die Techniken beherrschen, allein was nützt es? Wenn er, gelinde gesagt, ein Arschloch ist und unreflektiert seinen rotz in die Gallerien und Museen entlässt?
Der Anspruch, Fotografie repräsentiere das Gegenwärtige, den Moment, ist Überanspruch und Fehlanspruch zugleich.
Was aber dann?
Das erlernen einer Kunst heisst, die Techniken erlernen. Und sie wieder vergessen.
Das erlernen einer Kunst heisst, sich selbst maximal zu verlieren.
Das erlernen einer Kunst heisst, sich selbst maximal zu verwirren (lassen).
Das erlernen einer Kunst heisst, dass Mantra Kunst repräsentiert nicht immer und immer wieder zu wiederholen.
Der künstlerische Auftrag
Beim schweifen über die Fotobände in meiner Bibliothek fällt mir auf, dass fast jeder Fotoband einem Auftrag nachkommt. Sei es unbewusste Orte abzubilden (zu repräsentieren), sei es das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die selbstgewählten Aufträge sind vielfältig, der Fehler dahinter ist unique.
Ein Fotobuch sollte etwas über den Fotografierenden erzählen. Oder besser noch, stumm bleiben. Denn die Betrachtenden erzählen eh ihre eigenen Geschichten über das, was sie betrachtet haben.
Dieter Zinn schreibt sehr schön:
Gerade in essayistischen Fiktionen können sinnliche Verdichtungen erreicht werden, die ein Fenster der Selbsterkenntnis öffnen. Fiktiv deswegen, weil sich das Geschehene, wie lange auch immer es bereits vergangen ist, für eine Geschichte mit neuer Dramaturgie oder veränderter Intention erzählen lässt. Das Leben wird gezeigt. Nicht dokumentiert. Wenn dies gelingt, kann sich das, was zu sehen ist, verbinden mit dem, was hinter der Oberfläche des Fotos fühlbar wird. Fühlbar innerhalb einer Beziehung zwischen Menschen und Dingen, zwischen Innen und Außen.
Das Leben wird gezeigt
Auch Dieter Zinn macht einen Fehler. Das Leben wird eben nicht gezeigt. In keiner seiner eigenen Fotografien. Und auch in sonst keiner Fotografie. Ersetze ich Leben durch das Wort (Konzept) Dinge, dann wird ein Schuh draus. Dinge werden gezeigt. Und durch die Techniken (Zeit/Blende/ASA, Schärfe und Unschärfe, Bildgestaltung) werden die Vorstellungen der Menschen angeregt, zu den Dingen, die in der Fotografie zu erblicken sind, Geschichten zu erzählen. Damit eine Geschichte erzählt werden kann, braucht es die Verbindung zwischen den Betrachtenden und den Dingen.
Ich schließe nicht aus, dass sich die Dinge untereinander in Beziehung setzen und wahrnehmen. Dass sie sich gegenseitig Geschichten erzählen. Nur vermag ich diese Geschichten nicht zu hören, zu lesen, zu fühlen, wahrzunehmen.
Linear und Non-Linear
Ein Buch hat eine Anzahl von Seiten, die sich zwischen den Buchdeckeln befinden. Seitenzahlen auf den Seiten geben den linearen Ablauf bei der Betrachtung der Seiten vor. In der Regel, so unsere kulturelle Prägung, fangen wir auf Seite Eins an und blättern sodann zur Seite Zwei und so weiter. Mit Hilfe der Seitenzahlen (oder Eselsohren) kann ich mir merken, an welcher Stelle ich das Buch zur Seite gelegt habe, um zu einer anderen Zeit genau an dieser Stelle wieder in den Seitenfluss einzusteigen.
Dieses Konzept ist langweilig.
Ein Buch 📖 besteht aus sich gegenüberliegenden Seiten (bis auf zwei Ausnahmen: allererste Seite und allerletzte Seite). Diese Vorgabe lässt sich ändern, in dem ich die Bindung weglasse und die Buchdeckel lediglich die Aufgabe haben, die lose Blattsammlung zusammenzuhalten. Ein Buch ohne Buchrücken. Das alleinige Weglassen des Buchrückens löst nicht die Problematik der numerischen Abfolge. Auch die Seitenzahlen sind wegzulassen. Künstlerbuch.
Ich plädiere für die Beibehaltung des Buchrückens, weil dieser die Kompaktheit des Buches betont. Ein Buch mit Buchdeckeln und Buchrücken vermittelt Abgeschlossenheit, Dichte, Kompaktheit.
Das Buch zur Präsentation von Fotografien ist der Präsentation in Gallerien und Museen vorzuziehen. Das Fanzine ist dem Buch vorzuziehen. Das Gemeinsame dem Einsamen.
Fotografien übertragen innere Bilder auf sichtbare Formen. Ganz einfach. Reportagen, Serien und ähnliche Formate stülpen darüber Texte, die die Geschichten erzählen, die Vortäuschen, die Fotografien würden sie erzählen.
Durch das weglassen der Seitenzahlen breche ich die gewohnte Erzählstruktur auf, weil die Reihenfolge der Fotografien und Texte nun durcheinander geraten kann. Lediglich die starre, unveränderliche Anordnung der Seiten zwischen den Buchdeckeln, erinnert noch an die Linearität des Konzeptes Buch. Doch nun kann die Betrachtung der Seiten gefahr- und ermahnunsglos vorgenommen werden. Da ist keine Seitenzahl mehr, die mich an meinen Frevel erinnert, dass ich Seiten überschlagen habe. Nun kann ich nach Gutdünken, gerade so, wie es mir im Moment gefällt, die Seiten umblättern, überspringen, wieder betrachten und weglassen.
Nonlinear erzählen
Mit dem weglassen der Seitenzahlen ist ein Anfang gemacht. Allein, es reicht nicht aus. Die größte Herausforderung für den Fotografierenden ist, sich von dem Konzept der linearen Erzählung zu lösen. Für mich ist Wolfgang Tillmans ein Könner der Non-Linearen Erzählung. Oder auch Stephen Shore.
Der Buchtitel stärkt die nonlineare Erzählung, oder eben nicht. Steel Town ist ein Buchtitel von Shore und die Fotografien in diesem Bildband zeigen Aufnahmen einer Stadt (und vermutlich deren Bewohner). Die Bildfolgen öffnen den Raum für die eigenen, die inneren Bilder.
Ebenso Concorde, ein Buchtitel von Tillmans, das lediglich Fotografien enthält, die nichts anderes zeigen als die Concorde.
Laubsätzertage von Holger Karsch ist die nonlineare Erzählung par excellence. Jegliche Linearität ist aufgehoben. Es sei denn, ich als Betrachter zwinge dem Buch die logische Abfolge des Seite für Seite, Bild für Bild Betrachtens auf. Also eigentlich mir. Auch beim Buch gilt die Binsenweisheit, dass die Kunst 🎭 im Auge der Betrachtenden selbst liegt.
Das Weglassen der Seitenzahlen allein reicht nicht, um eine nonlineare Erzählung zu erwirken. Gemäß Bettina Lockemann zeichnet ein Fotobuch, zumal ein künstlerisches, einiges mehr aus. Narrativität, Serien, Sequenzen, Einzelbild versus Bilder, Chronografie, Blättern, Zeitlichkeit, die Organisation von Bewegung, Perspektive (erzählende Instanz). All diese Ebenen wollen betrachtet, berücksichtigt und gestaltet werden.
Einladen
Das Buch soll die Betrachtenden einladen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Sie sollen Tagträumen. Sie dürfen Tagträumen. Und es ist OK, dass Traum und Wachheit lediglich Traum und Wachheit sind.
Das Buch kann zur Seite gelegt werden und wieder zur Hand genommen werden. Es zwingt den Betrachtenden keine Logik auf, keinen Ariadnefaden. Auf welcher Seite auch immer, sollen die Betrachtenden in die Geschichten, die die Bilder evozieren, einsteigen können. Im besten Fall entstehen unzählige Geschichten, Träume, Hoffnungen, Assoziationen. Jene, die die Betrachtenden sich zu eigen machen und den ihren weitererzählen.
Das Blättern, die Einladung dazu, ist demnach eine der wichtigsten Eigenschaft, die ein Fotobuch haben sollte. Im Fotobuch vollendet sich die Fotografie. Nur selten gelingt, wie Tillmans dies in den 90zigern tat, eine Präsentation im Ausstellungskontext, die wie beim Blättern den Betrachtenden zum “wildernden Lesen” - hier betrachten, einlädt.
Blättern ist eine Geste, die, wie Vilém Flusser feststellte, eine Bewegung des Körpers ist, die eine Intention ausdrückt. Im Blättern verbinden sich Körper und Buch. In der Ausstellungssituation ist dies nicht zu erwirken. Der Körper, die Betrachtenden, bleiben vom Objekt, dem Bild, getrennt. Es kann sich nie eine Einheit bilden. Eine Einheit kann lediglich abstrakt, als Erzählung (Besprechung), behauptet werden.
Das Blättern, so Lockemann weiter, hebt die Zweidimensionalität der Buchseite auf und überführt sie in eine Drei- bzw. Vierdimensionalität.
Mit dem Blättern der Seiten kommt die Zeitlichkeit ins Spiel. Diese kann durch Serien, Sequenzen und Gruppen beeinflusst werden.
Die Narration des Fotobuchs wird durch den Titel angedeutet. Marcus Bohls Buch Tischblumen zeigt nichts anderes als Tischblumen. Was darunter zu verstehen ist, woher der Begriff stammt, all dies wird im Bildband nicht aufgelöst. Dem Betrachtenden bleibt nichts anderes übrig, angeregt die Seiten umzublättern. Alsbald wird ihm auffallen, dass hin und wieder eine Fotografie auf der linken Seite abgebildet ist. Die Mehrzahl der Bilder befindet sich jedoch auf der rechten Seite. Nicht wissend, was das zu bedeuten hat, wird der betrachtende entweder das Buch beiseite legen, weil er die Codierung des Buches nicht entschlüsseln kann, oder er begibt sich auf die Suche nach der oder den Bedeutungen. Gräbt sich tiefer und tiefer in das Buch. Nimmt es zur Hand, blättert wahllos. legt es zur Seite. Forscht im Internet, bemerkt nun seinerseits Tischblumen auf dem Tisch im Lieblingsrestaurant.
Schwach wäre das Fotobuch, wenn die Narration mit einem Blick zu verstehen und Nachzuerzählen wäre. Wir wären gelangweilt.
Eine Geschichte soll Sinn ergeben
Jaja, werden nun alle zustimmen. Klar soll die Geschichte Sinn ergben. Sonst wäre es ja keine Geschichte. Aber darum geht es ja auch nicht. Wodurch ergibt die Geschichte Sinn? Limburg Diaries führt den Betrachtenden auf die Spur des Tagebuchs. In einem Tagebuch werden gemeinhin Notizen, Beobachtungen, Reflexionen über das am Tag erlebte (oder gedachte) eingetragen. Eine Chronologie ist dem Begriff Tagebuch inhärent. Der Sinn ergibt sich nicht daraus, dass Limburg Diaries selbst ein Tagebuch ist, sondern dass es in Form von Tagebucheinträgen (Fotografien, kurze Notate) die Betrachtenden einlädt ihre Stadt und ihr Dasein in der Welt (das Leben oder das Erleben der Stadt) zu reflektieren. Was führt mich an einen Ort in der Stadt? Was erregt meine Aufmerksamkeit? Welches (induzierte?)Bild habe ich von der Stadt? Limburg ist in dieser Hinsicht lediglich Projektionsfläche.
Der Sinn der Geschichte wird durch die Betrachtenden gestiftet. Das Foto wie das Fotobuch selbst, ist nicht narrativ (von Ausnahmen abgesehen). Es lädt die Betrachtenden ein zum Träumen, zum Umherschweifen, zum Weitererzählen, zum Forschen und zum Meditieren.
Am Du wird der Mensch zum Ich.
Das gute, das gelungene Foto-Buch ist das Buch, dass zu eigenen Geschichten anregt, dass nicht vorgibt etwas zu repräsentieren (was auch immer). Das gelungene Buch ist ein Traumbuch. Es ist dialogisch. Es setzt in Beziehung, statt Beziehungen zu setzen. Es ermöglicht die Begegnung. Es ermöglicht das Ich und das Du.
Photobericht vom Photowalk 3
Die ganze Route hier: http://diary.saschabuettner.com/27-august-2023/
Service
Sascha Büttner, Limburg Diaries, BoD, https://www.bod.de/buchshop/limburg-diaries-sascha-buettner-9783757861797
Wolfgang Tillmans, Concorde, Walther König, https://www.artbooksonline.eu/art-15837
Dieter Zinn, https://www.dieterzinn.de/fotoessay
Stephen Shore, Steel Town, MACK, https://bildbandberlin.com/de/produkt/stephen-shore-steel-town/
Marcus Bohl, Tischblumen, BoD (GROB Magazin), https://www.bod.de/buchshop/tischblumen-marcus-bohl-9783754315835
Holger Karsch, Laubsätzertage, https://www.weisskunst.de/tag/holger-karsch/
Marcus Bohl, Versuch über das Vergehen der Zeit, Fotoessay 07 - GROB Essay, http://grob-magazin.org/category/grob-einfach/