Vier Arten zu Gehen
Angelehnt an Flussers Text Stöcke kann ich sagen, dass es vier (wenn nicht mehr) mögliche Arten gibt, durch die Stadt zu gehen:
in Gedanken versunken
die Stadt betrachtend
die Stadt genießend
den Heimweg suchend
Die Situationisten fügten das Erkunden einer Stadt durch zielloses Umherschweifen hinzu.
So, wie sich Flusser fragte, wie die vier Arten durch einen Wald (in meinem Beispiel die Stadt) zu gehen durch die Suche nach Stöcken umschlägt, so frage ich mich, wie sich meine Art, durch die Stadt zu gehen, durch die Suche nach Fotomotiven (und dem Vorhaben, die Stadt mit meiner Leica zu fotografieren) verändert. Der Anblick des Dings hängt davon ab, wie ich es ansehe. Wenn ich durch die Stadt gehe, um Fotomotive zu finden, ändert sich meine Sicht auf die Dinge und deren Sicht auf mich.
Ja gibt’s das denn?
Gedankenversunken durch die Stadt zu gehen heißt, durch die Stadt zu gehen ohne auf die Stadt (die Straßen, die Häuser, die Trampelpfade, die Menschen, die Geschäfte) zu achten. In diesem Zustand lässt sich keine Suche nach einem Fotomotiv durchführen. Oder anders: Aus diesem Zustand kann nur eine Disruption herausführen, also eine Unterbrechung des in Gedanken versunken sein, um in den Zustand, ein Fotomotiv suchen zu können, zu gelangen.
Alle anderen Arten eine Stadt zu beschreiten, ermöglichen (mehr oder weniger) die Suche nach Fotomotiven. Jedoch verändern sie sowohl meine Art zu gehen (eventuell bleibe ich öfters stehen oder ändere die Richtung oder den Standort, um ein erblicktes Motiv “besser” fotografieren zu können) und meine Art, die Dinge zu betrachten.
Die Dinge, die ich für ein Fotomotiv halte, blicken mich dann an. Die Aussage, ich habe ein Fotomotiv nicht gesehen, ist absurd.
Wer blickt wen an, und warum?
Was ich als Fotomotiv sehe (erkenne), habe ich schon vor dem Gang durch die Stadt definiert (ikonisches Wissen, induzierte Bilder). Die Suche nach Fotomotiven ist also mehr ein Einsammeln von Fotomotiven, weniger eine Suche. Ich habe eine klare Vorstellung davon, was ein Fotomotiv ausmacht, welches Licht ich dazu benötige und wie die fotografische Fläche (das Seitenverhältnis der Bildfläche) durch die Klumpung von Flächen (Schwarz, Weiß, Grauabstufungen) strukturiert werden sollte, wie die perspektivischen Möglichkeiten zu sein haben und das kein blöder Wortwitz im Motiv enthalten sein soll.
Vielleicht erklärt sich so, warum meine Fotografien quasi die universelle Stadt abbilden. Vorausgesetzt, die von mir eingesammelten Fotomotive können so oder in ähnlicher Form in jeder (westlichen) Stadt vorkommen. Natürlich gibt es Motive, die einzigartig sind (Eiffelturm, Shibuya Crossing, Pyramiden, Naturdenkmäler/Landschaften etc.). Diese einzigartigen Motive finden sich in endlosen Wiederholungen auf Instagram. Für Limburg ist der Dom zu nennen und die Fachwerkhäuser in der Altstadt.
Meine Bilder Blick auf den Dom zeigen eine Einzigartigkeit der Stadt Limburg.
Und sie zeigen Blicke, die sich den touristischen (Instagram) Blicken widersetzen. Das ist zumindest meine Behauptung. Dadurch werden diese Bilder zu einzigartigen Bilder, die zwar Teil des Universum der technischen Bilder sind und doch sich diesem entziehen.
Ich experimentiere mit zwei Arten durch die Stadt zu gehen. Da ist zum einen das Umherschweifen (dem raschen Durchgang, dem hastigen Passieren) und zum anderen das gedankenversunkene Schreiten.
Das hastige Passieren produziert Bilder wie dieses:
Das gedankenversunkene durch die Stadt Schreiten produziert Bilder wie dieses:
Beim Schreiten (nur dann gelingt es, gedankenversunken zu sein) passiert es nun, dass mich die Dinge aus diesem Zustand herausreissen. Zumeist plötzlich und unerwartet. Dieses Herausreißen, so schreibt Flusser, ist eine Kraft, die von Außen wirkt. In dieser Situation, in diesem Moment des herausgerissen sein, wird Inneres zu Äußerem und Äusseres zu Innerem. Das Äußere fegt meine Gedanken hinweg, so daß im ersten Moment Unruhe herrscht und ich die Situation vielleicht verteufeln mag. Sodann aber, in diesem Moment der Leere, erkenne ich, daß ich das Motiv gedacht habe, dass mich denkt. In diesem Moment bin eins mit der Stadt (oder zumindest mit dem Motiv in der Stadt) und die Stadt ist eins mit mir.
Dieses Einssein bedeutet jedoch nicht, dass ich mich in die Stadt hin ausdehne, sondern dass ich die Stadt in mir aufnehme. Ich verlasse die Ebene des Subjekt - Objekt und vereinnahme das Objekt in mir (und werde so zum Objekt).
Ein besonderes Merkmal dieser Situation ist, dass ich tatsächlich meine Leica an mein Auge führe, so dass ich durch den Sucher das Bildmotiv anvisieren kann und den Auslöser betätige.
Was also sind Fotomotive?
Man kann sie so definieren: Fotomotive sind Werke, welche entstehen, wenn eine Theorie in der Praxis angewandt wird. Fotomotive sind Zeugen dafür, daß wir nicht allein auf der Welt sind und Verantwortung für andere tragen. Fotomotive sind Instrumente, dank derer wir denken können und leben können, grundlegende Bedingungen also. Fotomotive sind absurde Versuche, gegen das Absurde des Menschseins zu kämpfen. Und schließlich: Fotomotive sind so, wie sie angesehen werden. (Frei nach Flusser)
Zurück zur Eingangsfrage
Wer fotografiert beim fotografieren? Zu dieser Frage wurde ich zuletzt von Christoph angetriggert. Schon lange beschäftige ich mich mit Bewußtsein, Sosein, in die Welt geworfen sein, Einssein. Die philosophische Reise führte mich zum Zen, zum Tao, zu den alten Griechen. Ich klopfte bei Heidegger an (und bekam keinen Einlass), trotze Wittgenstein (zu logisch), verfluchte Sartre (zu viel des Guten) und landete zuletzt, eben durch Christoph, bei den Upanischaden (zu viele Götter).
Jedoch Deleuze, Foucault und Flusser, sie sind stete Begleiter durch die Welt (und der alte Zhuangzi). Mit ihnen gelingt es mir, in Kombination des theoretischen Aktionismus der Situationisten, meine Fotografie zu begründen, auszuloten, zu verarbeiten und gegen Regeln zu verstoßen.
Fotografie ist für mich eine Zusammenarbeit von mir (wobei ich nicht wirklich weiß, wer mir ist) und den Dingen. Die Frage braucht keine Antwort (Antworten sind ohne Energie). Sie muss nur gestellt werden. Das ist alles.
Antworten bestehen aus Sätzen und die aus Begriffen und dazu schrieb ich schon vor längere Zeit, dass Begriffe Konzepte sind. Und dank Christoph weiß ich nun, dass Deleuze und Guattari dem noch anfügten, dass Konzepte sich durch die Jahrhunderte stetig wandelten. Darauf wäre ich auch noch gekommen!
Fünf Jahreszeiten
Fasching ist ein bedauernswerter Zustand, nicht aber eine Jahreszeit. Ich beziehe mich auf die traditionelle chinesische 5 Elemente Theorie, die neben den bei uns bekannten vier Jahreszeiten noch eine fünfte kennt: Der Spätsommer (Das Element Erde). Für mich hat der Winter demnach begonnen. In meine Gedankenversunkenheit nehme ich mit:
…Geschmack - auf welche Nahrungsmittel hat man besonders Appetit?
...Geruch - welcher Duft ist für diese Jahreszeit typisch?
...Gefühle - welche Gefühle werden jetzt geweckt?
...Geräusche - wenn wir der Natur lauschen, was hören wir?
...Gesichter - was sind die Farben der Saison?
...Gestalten - welche Formen nimmt die Jahreszeit an?
...Gedanken - welche mentalen Prozesse werden angeregt?
...und es braucht Geduld, denn es ist zeitaufwendig diesen Gesamtmix differenziertwahrnehmen zu können.
Mit diesen Kontemplationen schreite ich durch die Stadt und entsprechend wirken äußere Kräfte auf mich, die mich dazu bringen, meine Leica vors Auge zu halten und den Auslöser zu drücken.
Service
Vilém Flusser, Stöcke, in: Dinge und Undinge, Edition Akzente Hanser
Fotografie & Filosofie: Ein Photowalk mit Marcus Bohl durch Limburg - http://diary.saschabuettner.com/20-november-2022/
Christoph Klütsch: https://readingdeleuzeinindia.org